Dornröschen oder Aschenputtel?

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Die rechtliche Grundlage für derartige Prüfungen ist in der Elektroschutzverordnung zu finden, wo es unter den Allgemeinen Bestimmungen heißt: „Zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer/innen vor Gefahren, die vom elektrischen Strom ausgehen, haben Arbeitgeber/innen dafür zu sorgen, dass elektrische Anlagen und elektrische Betriebsmittel nach den anerkannten Regeln der Technik betrieben werden, sich stets in sicherem Zustand befinden und Mängel unverzüglich behoben werden.“

 

Der Begriff Betriebsmittel wurde allerdings im folgenden Text der bisherigen Elektroschutzverordnung im Zusammenhang mit wiederkehrenden Prüfungen nie mehr genannt, sodass die grundsätzliche Verpflichtung dazu von den Verantwortlichen meist ignoriert oder nicht beachtet wurde. Die Norm ÖVE E8701 und ihr Schutzziel waren scheinbar in einen Dornröschenschlaf verfallen.

 

Vor ungefähr drei Jahren war plötzlich neuerwachtes Interesse an dieser Norm zu erkennen, Seminare mit ausreichender Anzahl von Teilnehmern konnten abgehalten werden, österreichische Betriebe boten die Durchführung der wiederkehrenden Prüfung von elektrischen Geräten als Dienstleistung an. Der Grund warum Dornröschen geweckt wurde lag allerdings nicht im gesteigerten Verantwortungsbewusstsein der Arbeitgeber oder einer Initiative der Behörde sondern im Druck von ISO-Zertifizierungsinstituten und Mutterkonzernen aus Deutschland, wo derartige Prüfungen an elektrischen Geräten schon seit Jahrzehnten als vorbeugende Schutzmassnahme erfolgreich durchgeführt werden.

 

Weitere Fortschritte auf diesem Wege konnten von der neuen Elektroschutzverordnung 2012 erwartet werden. Diese Erwartungen wurden leider enttäuscht. Die ETV 2012 listet zwar erstmals bei den wiederkehrenden Prüfungen auch die Betriebsmittel, es wäre aber keine österreichische Verordnung wenn ein Fortschritt nicht durch diverse Randbedingungen zunichte gemacht würde. Folgende Kritikpunkte können aufgelistet werden:

  1. Betriebsmittel der Schutzklasse II und III werden in der Auflistung nicht genannt, es entsteht der Eindruck, als ob sie nicht der Prüfpflicht unterliegen würden Aus den allgemeinen Bestimmungen ist aber klar zu erkennen, dass Betriebsmittel nur dann stets in sicherem Zustand gehalten werden können, wenn sie auch wiederkehrend überprüft werden.

  2. Die genannten Zeitintervalle für wiederkehrende Prüfungen von Betriebsmitteln sind an die Zeitintervalle für Anlagen angeglichen, obwohl klar sein sollte, dass Betriebsmittel meist stärker beansprucht werden als Anlagenteile. Wie unter den Schreibtischen von Büros vor sich hin schmorende Mehrfachverteiler bei einem Prüfintervall von 10 Jahren stets in sicherem Zustand gehalten werden sollen, erscheint rätselhaft.

  3. Die wiederkehrende Prüfung von ortsveränderlichen elektrischen Betriebsmitteln der Schutzklasse I darf in normalen Arbeitstätten entfallen, wenn die Betriebsmittel ausschließlich an Steckdosen mit Zusatzschutz angeschlossen werden. Der häufigste Fehler bei ortsveränderlichen Betriebsmitteln der Schutzklasse I ist der Schutzleiterbruch, der Zusatzschutz-Fehlerstromschalter spricht in diesem Fall bei einem Isolationsfehler im Betriebsmittel erst an, wenn der Arbeitnehmer genügend Ableitstrom über seinen Körper zur Erde ableitet, d.h. einen elektrischen Schock erleidet. Ist der Fehlerstromschutzschalter gut gewartet, kann Lebensgefahr in den meisten Fällen vermieden werden, der starke elektrische Schock, kann aber zu unkontrollierten Abwehrreaktionen und damit zu Sekundärunfällen führen. Liegt der Körperstrom bei diesem Szenario über 5 mA, aber unter der Schaltschwelle des Fehlerstromschutzschalters kann es bei großflächigem Berühren des fehlerhaften Metallgehäuses zu starken Muskelverkrampfungen kommen, der Arbeitnehmer kann erst durch einen Arbeitskollegen aus dem Stromkreis befreit werden. Eine Analyse des technischen Reports IEC 60479 bezüglich der Körperstrom-Zeit-Kennlinie zeigt, dass bei Körperströmen von über 500 mA auch bei schnellem Abschalten Herzkammerflimmern auftreten kann. Herzkammerflimmern führt, sofern es nicht durch einen Defibrillator gestoppt wird, in den meisten Fällen zum Tode. Derartige Körperströme können bei Berühren mit beiden Händen und Ableitung über beide Beine bzw. den Rücken auftreten. Kurzschlüsse zwischen Neutralleiter und Außenleiter werden durch den 30 mA Fehlerstromschutzschalter ebenfalls nicht erkannt. Da bei begrenzten Kurzschlüssen der Ausschaltstrom der vorgeschalteten Überstromschutzeinrichtung meist nicht erreicht wird, ist die Entstehung eines elektrisch gezündeten Brandes wahrscheinlich.

Die Erfahrung zeigt, dass in vielen Fällen die angeschlossenen Betriebsmittel die Ursache für Störungen oder elektrisch gezündete Brände in Anlagen sind, der verheerende Vorfall in Kaprun sollte ein warnendes Beispiel sein. Vorbeugung ist in vielen Bereichen des menschlichen Lebens bereits eine fixe Größe, warum sollte das in der Elektrotechnik und der Arbeitswelt nicht gelten? Die wiederkehrende Prüfung von Betriebsmitteln ist eine vorbeugende Schutzmaßnahme, die mit relativ geringem Aufwand das Risiko von ungewollten Abschaltungen, elektrischen Unfällen und elektrisch gezündeten Bränden in Anlagen wesentlich verringern kann.

Die Elektroschutzverordnung 2012 hat diese Chance nicht wahrgenommen, das eben erwachte Dörnröschen wird darin zum Aschenputtel degradiert und an den Herd zurückgeschickt. Aus der Sicht der Arbeitssicherheit ist es der falsche Weg, eine vorbeugende Schutzmaßnahme gegen eine andere Schutzmaßnahme auszuspielen.Man kann es auch als Missachtung der Arbeit von vielen Fachexperten im ÖVE sehen, die aus der ÖVE E 8701 eine leicht lesbare und einfach anwendbare Norm gemacht haben.

 

www.neumann-messgeraete.at

 

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